Mittwoch, 10. September 2008

Das Twitter-Mosaik

Warum ist Mikrobloggen so erfolgreich? Weil der Mensch Nähe braucht

Alex Beam ist 54 und versteht die Welt nicht. Der Kolumnist des Boston Globe hat jüngst eine Artikel über Twitter geschrieben. Twitter ist jener Internetdienst, bei dem man Botschaften kurz wie eine SMS verschickt. Der Unterschied zur SMS: Die Nachricht hat nicht einen, sondern viele Empfänger. Es wird „getwittert“, dass man gerade auf dem Weg zur Arbeit ist; welchen Kinofilm man am Abend zu sehen gedenkt; warum die Pizza beim Lieblingsitaliener besonders lecker war. Twitter-Beiträge sind zu 99,9 Prozent belanglos.

Beam jedenfalls hatte sich für seine wöchentliche Kolumne Twitter angesehen und schnell wieder die Finger von gelassen. Sein Fazit: "Wen soll es stündlich interessieren, was ich den ganzen Tag mache? Das interessiert ja nicht einmal mich."

Mikrobloggen oder Micropublishing sind zwei Begriffe, die das Gleiche meinen, nämliche das zeitnahe Mitteilen knapper Informationen. Es ist die kleine Schwester des großen Bruders „Blog“. In einem Blog wird thematisiert, analysiert, ausgeufert. Ein Mikroblog dagegen ist kurz und knapp. Twitter ist der bekannteste Anbieter. 140 Zeichen pro Nachricht sind dort erlaubt. Lesen kann diese Nachrichten jeder der möchte; allerdings ist es auch möglich, den Kreis der Betrachter einzuschränken. In der Regel sind Freunde und Bekannte die Adressaten (bei Twitter „Follower“ genannt). Die Lesen die Botschaften auf ihrem Computer, immer öfters auch auf dem Handy. Was geschrieben wird, ist, wie gesagt, in der Regel trivial. Warum aber ist Twitter dann so erfolgreich? Vor allem bei Jüngeren. Siegt die Banalität über den Tiefgang, die Phrase über die Differenzierung?

Im New York Times Magazin war neulich ein langer und interessanter Artikel zu lesen. Der Wissenschafts- und Technik-Journalist Clive Thompson hat ihn geschrieben. Thompson glaubt, dass die Faszination von Twitter und Co nie begriffen werden könne, wenn man sich nur einzelne Beiträge anschaue. Man müsse Twitter länger nutzen, um den Wert der Anwendung zu erschließen.

Konkreter: Folgt man einem User über Twitter, entsteht im Laufe der Zeit ein Bild von diesem Menschen. Weil man ihm immer näher kommt. "Wer bei einer unbekannten Person auf einen Twitter-Eintrag schaut, empfindet das als langweilig und dummes Geschwätz. Aber wenn Sie dieser Person einen Tag folgen, werden ihnen die einzelnen Einträge in der Summe wie eine kleine Geschichte vorkommen, folgen Sie dieser Person einen Monat, entsteht ein Roman", schreibt Thompson.

Aus den einzelnen Nachrichten entsteht, wie bei einem Mosaik, ein Gesamtbild. Thompson: "Es ist eigentlich ein Paradox: Jedes kleine Update - jedes kleine Häppchen von sozialer Information - ist für sich genommen völlig unwichtig. Aber im Laufe der Zeit verbinden sich die Schnipsel zu einem Bild über das Leben eines Menschen, so wie aus tausenden Punkten ein Gemälde werden kann.

Twitter als Lebensbegleiter also, ein Abbild des "echten" Lebens. In diesem echten Leben begegnen sich Menschen von Angesicht zu Angesicht, sie schauen sich an, führen Small-Talk-Gespräche, achten auf die Körpersprache, begutachten aus dem Augenwinkel. Auch dort wird aus Einzelteilen ein Bild. Jede Wahrnehmung ist für sich genommen, wenig wert, oft banal, kaum der Rede wert. In der Summe aber entsteht ein Vorstellung, man ordnet ein, Empathie kann wachsen, manchmal auch Antipathie.

Twitter funktioniert ähnlich, und ist doch nur Ersatz. Weil Nähe mehr ist als der Austausch von Worten. Diese Erfahrung machen täglich Tausende. Menschen, die sich auf Single-Börsen umschauen und dann ein Treffen außerhalb des Internets vereinbaren. Oft ist die Verwunderung groß. Das Bild, das über die Kommunikation im Internet geprägt wurde, will nicht zur realen Person passen. Das Mosaik ist im besten Fall lückenhaft. Eine Enttäuschung muss dass nicht bedeuten. Auch ein verändertes Mosaik kann gefallen: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS/Emnid entstehen über das Internet mittlerweile mehr Beziehungen als in Kneipen und Diskotheken. Nur durch Arbeitsplatz und Freundeskreis werden mehr Singles zu Paaren.

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